AG Bildung: Die erweiterte Reproduktion oder die Akkumulation des Kapitals (Teil I)

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Im vergangenen Beitrag der AG Bildung haben wir mit der Diskussion der Reproduktionsbedingungen in einer Gesellschaft begonnen. Wir stellten fest, dass die Produktionsmittel in Form des konstanten und des variablen Kapitals aber auch der Mehrwert sowohl im Bereich der Produktionsmittel als auch der Konsumtionsmittel für die Existenz einer Gesellschaft reproduziert werden muss. Als erste Näherung an die tatsächlichen Verhältnisse haben wir uns mit der einfachen Reproduktion beschäftigt: In einem Produktionszyklus wird genau das Kapital reproduziert (= wiederhergestellt), welches im vorangegangenen Zyklus aufgewendet worden ist. Die einfache Reproduktion impliziert zwei wichtige Konsequenzen: 1. Der Arbeiter verlässt jeden Reproduktionsprozess so wie er in den Prozess eintrat: als Lohnabhängiger, der seine Arbeitskraft zum Überleben verkaufen muss und von seiner Arbeit nicht profitiert. 2. Die gesellschaftliche Entwicklung stagniert auf einer Ebene: es werden genau die Güter produziert, die verbraucht worden sind. Die Bedingungen der einfachen Reproduktion ähneln einem imaginären Zustand, die die Realität des Kapitalismus nicht widerspiegelt. Letztlich kann die einfache Reproduktion die kapitalistischen Verhältnisse auch nicht reflektieren, da die kapitalistische Produktionsweise nicht der Herstellung von Gebrauchsgegenständen sondern der Aneignung des Wertzuwachses durch die menschliche Arbeit dient. Der Kapitalismus hat die Akkumulation von Kapital zum Ziel und nicht seiner Erhaltung.  

Die Akkumulation (lat. = Anhäufung, Ansammlung) von Kapital wird im Kapitalismus durch die erweiterte Reproduktion realisiert. Dessen wesentliches Merkmal ist die Überführung eines Anteils des angeeigneten Mehrwertes in das Gesamtkapital eines Unternehmens, also die Kapitalisierung von Mehrwert. Der verbleibende Teil des Mehrwertes wird vom Kapitalisten verzehrt; durch die Kapitalisierung von Mehrwert verzichtet der Kapitalist folglich – im Gegensatz zur einfachen Reproduktion – auf privaten Konsum.
Für die Kapitalisierung von Mehrwert ist es zunächst unerheblich, ob und in welcher Höhe das „neue“ Kapital dem konstanten und/oder dem variablen Kapital zugeführt wird. Das hängt vor allem davon ab, ob die Produktion eines Unternehmens ausgedehnt werden soll, ob moderne Produktionsverfahren eingeführt werden soll, etc. und ob für das Vorhaben überhaupt neue Arbeitskräfte benötigt werden. Unabhängig von diesen Fragen erfolgt die Erhöhung des Kapitals durch den Einkauf der entsprechenden Waren (einschließlich Arbeitskräfte). Diese müssen selbstverständlich schon vor der tatsächlichen Reproduktion für den Kauf bereitgestellt worden sein.
Verständlich wird der Charakter der erweiterten Reproduktion, wenn wir uns ein Reproduktionsschema mit konkreten Zahlenbeispielen vor Augen führen. Für die Ableitung der ganzen Konsequenzen, die sich für eine Gesellschaft aus der Reproduktion im Kapitalismus ergeben, wollen wir die Ebene eines einzelnen Unternehmens verlassen und uns auf eine gesellschaftliche Ebene begeben. Vorab müssen wir jedoch noch drei Annahmen definieren. Zahlenwerte sind fiktiv und entsprechen mehr oder weniger der Realität.    
Wir nehmen an, das die organische Zusammensetzung des Kapitals in den Produktionsstätten der Gesellschaft durchschnittlich 4:1 (= c:v) beträgt.
Die durchschittliche Akkumulation beträgt 50 %. Vom Mehrwert werden also 50 % kapitalisiert.
Die Mehrwertrate (= m/v) beträgt durchschnittlich 100 %.
In den Spalten des folgenden Reproduktionsschemas (blau) sind die drei Bestandteile des Gesamtproduktes als Summe der in einer Gesellschaft produzierten Produktenwerte aufgeführt:  c = konstantes Kapital, v = variables Kapital und m = Mehrwert. Die Zeilen (grün) repräsentieren die Kapitalien für den Bereich der Produktions- und Konsumtionsmittel (Summe = Gesamtprodukt) in Abhängigkeit vom Reproduktionszyklus (1 Zyklus = 1 Jahr).

erweiterte_reproduktionDie Zahlen des Reproduktionsschemas sind keine spezifischen Einheiten (E). Theoretisch kann es sich um Millionen oder Milliarden € handeln. Diese Frage ist auch unerheblich, da sich die Prinzipien der erweiterten Reproduktion mit allen anderen Zahlenwerten durchrechnen lassen.
Der Bereich „Produktionsmittel“ erzeugt im Ausgangsjahr 12.000 E, die im ersten Jahr zuzüglich einer 50 %igen Kapitalisierung des Mehrwertes (= 800 E bei c, 200 E bei v) komplett wieder in die Produktion eingehen. Unter Berücksichtung einer Mehrwertrate von 100 % ergibt sich für das erste Jahr ein Mehrwert von 2200 E. Im zweiten Jahr werden 14520 E Produktionsmittel erzeugt, die im folgenden Jahr wieder vollständig in die Produktion eingehen und einen in Abhängigkeit von v höheren Mehrwert ergeben. Für die Produktions-mittel ergibt sich eine sich ständig erweiternde Spirale. Das die Produktionsmittel in die Produktion vollständig zurückfließen ist elementarer Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise, denn die Produktionsmittel ist der eigentliche Gegenstand der gesellschaftlichen Akkumulation. Ihr Besitz oder Nichtbesitz ist das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse.
Vergegenwärtigen wir uns nun die Verhältnisse im Bereich der Konsumtionsmittel. Im Ausgangsjahr wurden 6000 E Konsumtionsmittel produziert, von denen 3000 E den Arbeitern (2000 E aus Produktionsmittelbereich + 1000 E aus Konsumtionsmittelbereich) für den Verbrauch zur Verfügung stehen. Den Kapitalisten verbleiben 3000 E, von denen bei einer Akkumulation von 50 % lediglich 1500 E konsumiert und 1500 E akkumuliert werden. Daraus folgt, dass ein Überschuss von Konsumtionsmitteln produziert wird, den niemand kaufen und niemand konsumieren kann, da das verfügbare Kapital im Rahmen der erweiterten Reproduktion bereits vollständig ausgegeben wurde. Dieser Überschuss erhöht sich mit jedem Reproduktionszyklus und beträgt in unserem Zahlenbeispiel am Ende des fünften Jahres 2415,8 E. Als ein Ergebnis der erweiterten Reproduktion können wir festhalten, daß die Kapitalisten den im Produktionsmittelüberschuß enthaltenen Mehrwert nicht mehr realisieren können, denn das ist nur möglich bei einem vollständigen Konsum des Mehrwertes durch die Kapitalisten (d.h. im Rahmen der einfachen Reproduktion (vergl. KI-Info vom 16.10.2010). Wird dagegen lediglich ein Anteil des Mehrwertes durch die Kapitalisten konsumiert und ein Anteil kapitalisiert, entsteht ein Überschuss an produzierten Gütern, der sich nicht verkaufen lässt. Die ganze Maschinerie der erweiterten Reproduktion gerät ins Stocken.
Mit der Vorstellung des Reproduktionsschemas für die erweiterte Reproduktion wollen wir es an dieser Stelle belassen. Im nächsten KI-Info werden wir auf die gesellschaftlichen Konsequenzen und die daraus resultierende, für uns spürbare Politik der herrschenden Klasse eingehen.
Für das eingehende Studium der erweiterten Reproduktion verweisen wir auf die folgende Lektüre:  Karl Marx, Das Kapital Bd. I: S. 605 – 636.

AG Bildung

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