Die revolutionäre Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und die Verkehrung der Produktivkräfte in „Destruktivkräfte“

von Otto Finger

Der zur Revolution, zur Ablösung einer Gesellschaftsformation durch eine andere, höhere, treibende Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen spitzt sich zu folgendem Vorgang zu: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktivkräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte …“ [1/214]

Marx und Engels heben als solche „Destruktionskräfte“ das Geld und die Maschinerie hervor: Ersteres als jene kapitalistische Gestalt der Versachlichung aller menschlichen Beziehungen, als jene übermächtige Gewalt über alles menschliche Tun, in der sich die Möglichkeit zu aller und jeder Verkehrung und Deformation menschlichen Verhaltens verkörpert. –

Das Geld ist als allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge „die verkehrte Welt“, es „zwingt das sich Widersprechende zum Kuss. –

Dass es aber all diese Verkehrungen natürlicher und menschlicher Qualitäten bewirken kann, ist in diesem seinen Wesen begründet: Es ist das entfremdete, entäußerte Gattungswesen des Menschen. „Es ist das entäußerte Vermögen der Menschheit.“ [2/215] –

Nach unserer Verständigung über den sozialökonomischen Gehalt der Begriffe Entfremdung, Entäußerung, Gattungswesen der Menschen bedeutet dies: Im Geld, genauer: in der Macht der Geldbesitzer, drückt sich die Aneignung der Arbeitsprodukte durch die Eigentümer der Produktionsmittel aus. Im Kapitalismus vermittelt das Geld das Ausbeutungsverhältnis zwischen Eigentümern, Geld- und Produktionsmittelbesitzern auf der einen Seite und den besitzlosen Arbeitern [werktätigen Frauen und Männern] auf der andern Seite.

Geld als Tauschmittel ist nicht schlechtweg eine „Destruktionskraft“. In der Macht des Geldes als einer fremden Machtfremd, weil die Eigentumslosen und Ausgebeuteten es nicht haben oder nur soweit haben, um ihre Ausbeutbarkeit zu reproduzierendrückt sich ihre eigne Ohnmacht aus. –

Gleichzeitig ist der Geld- und Warenverkehr sowie die Konzentration von Geld in den Händen der Industriekapitalisten ein entscheidendes Vehikel, um die höhere Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit zu bewirken. Geldkonzentration ist vorausgesetzt für die Konzentration von Produktionsmitteln, letztere eine Grundbedingung für die Steigerung der Produktivität der vordem feudal zersplitterten Produktionsinstrumente.

Das gleiche gilt für die Maschinerie. Ebensowenig wie Geld als Tauschmittel an sich eine produktive oder destruktive Kraft ist, kann Maschinerie und damit industrielle Produktion und Technik schlechtweg als produktive oder destruktive Kraft gekennzeichnet werden. –

Wodurch also verwandeln sich die vordem produktiven in zerstörerische Kräfte? Zunächst dann, wenn die Eigentumsverhältnisse ihre weitere Entfaltung behindern. Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ heißt es hierzu: „Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die Unterirdischen Gewalten nicht mehr beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind. Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen.

In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. –

In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. –

Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Zivilisation und der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. –

Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ [3/216]

Hiermit, mit diesem Aufweis von Ursachen und Wirkungen des Zusammenpralls von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist freilich noch nicht geklärt, dass die Produktivkräfte selbst in Destruktivkräfte umschlagen. Wir erfahren zunächst nur – und das hat allerdings noch vollständige Gültigkeit für den heutigen Kapitalismus, ist tagtäglich beobachtbare Entwicklungstendenz in dem noch vom [Finanz- und] Monopolkapital regierten Teil [1973] der Welt [- heute: die gesamte werktätige wert- und mehrwertschöpfende und reproduzierende Menschheit] –, wir erfahren also zunächst nur dies: Der genannte Widerspruch treibt zu ständig wiederkehrenden und im Verlaufe der Entwicklung des Kapitalismus immer verheerenderen Krisen, zur Vernichtung von Produktivkräften.

Der an dieser Stelle von Marx und Engels herausgehobene Vorgang der Umwandlung von Produktivkräften in Destruktivkräfte ist im umfassendsten und buchstäblichen Sinne im Imperialismus eingetreten. Jetzt geschieht nämlich eine solche Rebellion der Produktivkräfte gegen die Produktionsverhältnisse, dass die herrschende Klasse einen stets wachsenden Teil der Produktivkräfte in Instrumente zum Schutze ihrer überlebten Herrschaft pervertiert. Es geht heute, in der imperialistischen Gesellschaft, um eine solch kolossale Zuspitzung des genannten Widerspruchs, dass der überwiegende Teil aller Produktivkräfte überhaupt nur noch zum Zwecke der Destruktion, der Zerstörung entwickelt wird. –

In den beiden imperialistischen Weltkriegen des 20. Jahrhunderts ist dieser in den Produktions- und Klassenverhältnissen des Kapitalismus unausrottbar verwurzelte Vorgang in der barbarischsten und kolossalsten Weise geschehen: Nicht nur die übergroße Masse aller sachlichen Produktionsinstrumente, Technik, Maschinerie, Transportmittel verwandelte sich hier in Zerstörungswerkzeuge, auch riesige Massen der Produktivkraft Mensch, zusammengezwungen in imperialistischen Armeen, wurde hier zur Destruktivkraft.

Der Imperialismus selbst hat so zu all den von Marx und Engels theoretisch begründeten und theoretisch vorhergesehenen Entartungen, zu allen theoretischen Beweisgründen und empirisch schon im 19. Jh. vorliegenden Notwendigkeiten einer Umwälzung des Kapitalismus den denkbar letzten praktischen Grund für die sozialistische Revolution dieses Gesellschaftssystems hinzugefügt. Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hat sich nunmehr dahin verschärft, dass der Imperialismus, die in ihm herrschende [Finanz- und] Monopolbourgeoisie drauf und dran ist, die Produktivkräfte in Destruktivkräfte zur Vernichtung der Menschheit selbst zu verkehren. Dass genau diese Möglichkeit nicht zur Wirklichkeit geworden ist und auch nicht werden wird [konnte], hat [hatte] seine Voraussetzung in nichts anderem als darin: Im Ergebnis der [zeitweilig] siegreichen [real-]sozialistischen Revolutionen [vor allem im Ergebnis der Weltkriege] ist der Monopolbourgeoisie die Möglichkeit [vorübergehend] genommen [worden], ihren eigenen gesetzmäßigen Untergang zur Vernichtung der Menschheit zu potenzieren.

Marx und Engels waren keine Zeitgenossen der skizzierten imperialistischen Verkehrung von produktiven in [welt-]zerstörende Kräfte. Was lag ihrer genannten These, die sie erstmalig in der „Deutschen Ideologie“ formulierten, zugrunde?

Insbesondere erfasst sie den folgenden sozialen Widerspruch: Die Produktivkräfte werden schon im vorimperialistischen Kapitalismus dergestalt von den Individuen, den arbeitenden Menschen, deren eigne Kräfte sie ja sind, „losgerissen“, dass sie sich in eine feindliche, zerstörerische, eben destruktive Macht und Kraft gegen die Arbeitenden verkehren. Letzteres aber ist eine Folge des Grundwiderspruchs der kapitalistischen Produktionsweise überhaupt; denn in ihr wird zwar gesellschaftlich produziert, aber privat angeeignet. Obwohl hier auf der einen Seite eine noch nie dagewesene Vergesellschaftung der Produktion und die umfassendste Verflechtung aller Arbeitstätigkeit zum ganzen der kapitalistischen Produktionsweise – hergestellt durch Industrie und alles durchdringenden Warenmarkt – stattfindet, geschieht andrerseits eine noch nie dagewesene Zersplitterung der Individuen, aufgespalten durch die Gesetze des Konkurrenzkampfes der Warenbesitzer [zugleich der Konkurrenzkampf – der Ware – der physischen und psychischen Arbeitskraftbesitzer etc.].

Im Ergebnis der schon behandelten Untersuchungen der Beziehung zwischen Produktionsinstrumenten und Eigentumsformen, insbesondere zwischen maschineller Industrie, Arbeitsteilung und kapitalistischem Privateigentum, gelangen Marx und Engels zu folgendem Schluss, worin der skizzierte Widerspruch in sozialökonomischen Ursachen und Wirkungen zusammengefasst ist:

Es zeigen sich hier also zwei Fakta. Erstens erscheinen die Produktivkräfte als ganz unabhängig und losgerissen von den Individuen, als eine eigne Welt neben den Individuen, was darin seinen Grund hat, dass die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert und im Gegensatz gegeneinander existieren, während diese Kräfte andererseits nur im Verkehr und Zusammenhang dieser Individuen wirkliche Kräfte sind. Also auf der einen Seite eine Totalität von Produktivkräften, die gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben und für die Individuen selbst nicht mehr die Kräfte der Individuen, sondern des nPrivateigentums (sind), und daher der Individuen nur, insofern sie Privateigentümer sind. In keiner früheren Periode hatten die Produktivkräfte diese gleichgültige Gestalt für den Verkehr der Individuen als Individuen angenommen, weil ihr Verkehr selbst noch ein bornierter war. Auf der andern Seite steht diesen Produktivkräften die Majorität der Individuen gegenüber, von denen diese Kräfte losgerissen sind und die daher alles wirklichen Lebensinhalts beraubt, abstrakte Individuen geworden sind, die aber dadurch erst in den Stand gesetzt werden, als Individuen miteinander in Verbindung zu treten.“ [4/217]

Es verdient in unserem Zusammenhang betont zu werden, dass für die Entwicklung der subjektiven Bereitschaft und Fähigkeit des Proletariats zur revolutionären Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse der letztgenannte Gedanke sehr wesentlich ist. Er enthält den Ansatz zur Klärung einer wichtigen objektiven Voraussetzung für den Zusammenschluss der Proletarier zur Klasse, zur Vereinigung entgegen allen Auswirkungen der kapitalistischen Warenwirtschaft auf die Arbeiter selbst. Sie sind ja zunächst selbst gegeneinander aufgespalten, treten als konkurrierende Eigentümer ihrer Ware, nämlich der Ware Arbeitskraft, auf den Markt.

Für die Überwindung dessen ist vorausgesetzt, dass sie [die werktätigen Frauen und Männer], weil sie vom Kapital ausgebeutet und so ihres Lebensinhalts beraubt werden – es wird ihnen die Möglichkeit genommen, in der Arbeit sich selbst zu verwirklichen [die Ausnahmen bestimmen nicht die Regel etc.], sich zu bestätigen, ihre schöpferischen Kräfte als ihre eignen Kräfte zu betätigen, zu vervollkommnen – dass sie also gerade hierdurch als Individuen sich vereinigen. Jeder einzelne Proletarier – im geschilderten Sinne zum „abstrakten“ Individuum geworden, also sich als Individuum in der Produktion nicht mehr bestätigend, bloßes Zubehör zur kapitalistisch regierten und verwerteten Maschinerie – ist in dieser Beraubung, Ausbeutung, Unterdrückung, Not in der gleichen Lage wie alle anderen. Und er gewinnt seine Individualität zunächst in nichts anderem als in der bewussten solidarischen Vereinigung mit den Klassengenossen [zugleich Klassengenossinnen] zum Kampf gegen die kapitalistischen Feinde und für die eigne Befreiung.

Karl Marx und Friedrich Engels betonten im gleichen Zusammenhang:

1. In der kapitalistischen Industrie und Konkurrenz sind alle Existenzbedingungen der Menschen auf die folgenden „einfachen Formen“ zusammengeschmolzen: Privateigentum und Arbeit.

2. Die Verwandlung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte aufgrund des Privateigentums an den Produktionsmitteln geht einher mit und drückt sich aus in der Herausbildung einer Klasse, die alle Lasten der Gesellschaft trägt, von ihren Genüssen ausgeschlossen ist, die in den entschiedensten Gegensatz zu allen anderen Klassen gezwungen ist, des Proletariats. Es ist eine Klasse, die die Mehrheit der Gesellschaft bildet „… und von der das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewusstsein ausgeht …“ [5/218] Natürlich könne dieses Bewusstsein sich auch unter den anderen Klassen bilden. [6/219]

3. Die Anwendung von Produktivkräften – gleichgültig ob sie nach ihrer progressiven Entwicklung hin oder nach ihren destruktiven Konsequenzen hin untersucht werden – geschieht in der bisherigen Geschichte stets unter Bedingungen von Klassenherrschaft.

4. Die Revolution der letzten und massenhaftesten aller ausgebeuteten Klassen, die Revolution des Proletariats, ist gegenüber allen vorhergehenden die wirklich gründliche. Alle früheren Revolutionen ließen etwas Entscheidendes unangetastet: die „Art der Tätigkeit“, wie Marx und Engels sagen. Es habe sich stets nur um eine andre Verteilung der Tätigkeit, um eine neue Verteilung der [Früchte der] Arbeit an andre Personen gehandelt. In anderen Worten: Unangetastet blieb bei allen in sozialen Revolutionen durchgeführten Veränderungen der Eigentumsverhältnisse ein allen vorsozialistischen Produktionsweisen gemeinsames Produktionsverhältnis, das Verhältnis der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen [in der sogenannten ‘Sozialen Marktwirtschaft’ gleichermaßen wie im kleinbürgerlich ‘harmonisch’ liberal-sozialdemokratischen Sophismus: ‘Sozialismus nationaler Prägung’ usf.; R. S.]. –

Die „Art der Tätigkeit“ unangetastet lassen bedeutet also den charakteristisch vorsozialistischen Typ von Arbeit überhaupt bestehen lassenes ist Arbeit, deren Ergebnis vom nichtarbeitenden Besitzer der Produktionsmittel angeeignet wird. –

Dagegen richtet „… die kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit …, sie (beseitigt) die Arbeit[7/220] Arbeit ist hier Begriff für entfremdete, also kapitalistisch organisierte im besonderen und, allgemeiner, für unter Bedingungen der Klassenherrschaft und Klassenunterdrückung überhaupt ausgeübte Tätigkeit.

Es ist bei solchen und im Marxschen Frühwerk ähnlich formulierten Forderungen nach Aufhebung der Arbeit als Voraussetzung für den Kommunismus als Gesellschaft der freien und bewussten Selbstbetätigung aller schöpferischen Kräfte des Menschen zu beachten: Sie zielen auf die Beseitigung der ausgebeuteten, unterdrückten, gezwungenen, verelendenden Arbeit. –

Selbstredend ist es Karl Marx nicht im Traum eingefallen, kommunistische Freiheit – wie mansche scheinrevolutionäre und lumpenproletarische Grüppchen heutiger Protestler gegen Technik und Zivilisation verkünden – auf das Aufhören von Produktionstätigkeit zu gründen. Eine solche reaktionäre Utopie von Anti-Industrie, Anti-Technik, Anti-Zivilisation, Anti-Kultur, eben die illusionäre Ideologie einer, wenn man so will, „Anti-Arbeit“ überhaupt hat mit dem Marxismus nicht das geringste gemein. Solchen Utopismus auf Karl Marx bauen zu wollen, ist totaler historischer und philosophischer Unverstand des konkreten Inhalts der Marxschen Kritik an entfremdeter Arbeit und ihrer antikapitalistischen Stoßrichtung sowie auch einer entscheidenden Bestimmung von Marx für die Realität des Kommunismus.

Diese Bestimmung aber – in ihrer reifsten Gestalt in der „Kritik am Gothaer Programm“ entwickelt – besagt: Die Produktivkräfte der Gesellschaft erreichen mit der allseitigen Entwicklung der Individuen einen solchen Stand, die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums fließen so kraftvoll, dass der Grundsatz gilt: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. –

Und Marx’ Kommunismusauffassung hat so wenig mit dem Aufhören von Arbeit zu tun, dass er vielmehr dies voraussieht: Die [befreite] Arbeit wird zum ersten Lebensbedürfnis des Menschen. Sie hört damit auf, bloßes Mittel zum Leben zu sein. Allerdings ist dann tatsächlich die ganze bisherige Art der Tätigkeit, so wie es schon die „Deutsche Ideologie“ als revolutionäre Forderung des wissenschaftlichen Kommunismus erhebt, umgewälzt.

Der Kommunismus beseitigt nämlich, wie Marx in der „Kritik des Gothaer Programms“ unterstreicht, die knechtende Unterordnung unter die Teilung der Arbeit. Selbstredend beseitigt der Kommunismus ebensowenig die Arbeitsteilung überhaupt, wie er die Produktion überhaupt beseitigt. Der Kommunismus bringt ferner den Gegensatz zwischen körperlicher und geistiger Arbeit zum Verschwinden. Auch hierfür gilt: Kommunismus bedeutet nicht etwa eine solche – Hegelsche und sonstig identitäts-, beispielsweise „praxis“-philosophische oder auch strukturalistische – Einswerdung von Sein und Bewusstsein, von materiellem Handeln und theoretischem Denken, von objektiven Produktionsverhältnissen und geistigem Lebensprozess, dass es sinnlos würde, zwischen Materie und Bewusstsein, Theorie und Praxis oder eben auch körperlicher und geistiger Arbeit zu unterscheiden. Was mit der Wurzel ausgerottet wirdund zwar schon in der sozialistischen Revolution und dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaftist in der Tat die Klassengrundlage dieses Unterschieds. –

Mit der kommunistischen Entfaltung der Persönlichkeit des arbeitenden Menschen, der kommunistischen Entwicklungshöhe der Produktivkräfte kommt es ferner zu neuen Beziehungen zwischen materieller und geistiger Tätigkeit innerhalb der kommunistischen Produktionsweise. Damit verschwindet sowohl der Klassengegensatz ihres Unterschieds wie sein traditioneller Inhalt überhaupt. [8/221]

Karl Marx und Friedrich Engels weisen auf den unauflöslichen Zusammenhang ihrer Kritik an der alten „Art“ der Arbeit und dem Bestehen der alten Klassenherrschaft in der „Deutschen Ideologie“ selbst mit Nachdruck hin. Beseitigung von entfremdeter Arbeit fällt in der kommunistischen Umwälzung mit der Aufhebung der Klassenherrschaft zusammen. In der Arbeiterklasse selbst liegen die Möglichkeiten dieses Prozesses einbeschlossen. In gewissem Sinne verkörpert sie schon die Auflösung der Klassen. Dass sie selbst ihre Klassendiktatur errichten muss, um diese Möglichkeit zu verwirklichen, ist im Keim, wie wir sehen werden , in der „Deutschen Ideologie“ angelegt, wird aber erst nach der Revolution von 1848 näher ausgeführt. Das Proletariat würde, so meinen Marx und Engels 1846, schon deshalb alle Klassenherrschaft beseitigen, weil es ja selbst gar nicht mehr als Klasse anerkannt werde, schon Ausdruck der Auflösung aller Klassen und Nationalitäten in der bestehenden Gesellschaft sei. [9/222]

5. Wir beschließen die Skizze der zur sozialistischen Revolution treibenden Widerspruchsdialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen mit der folgenden Charakteristik der Subjekt-Objekt-Dialektik, des Zusammenfallens des Änderns der Umstände mit der Selbstveränderung seiner revolutionären Akteure. Karl Marx und Friedrich Engels betonen, „… dass sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“ [10/223] «

Anmerkungen

1/214 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 69. (Hervorhebung von O. F.)

2/215 Vgl. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 563 ff.

3/216 Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 467 f.

4/217 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 67.

5/218 Ebenda, S. 69.

6/219 »Wir werden auf diese hochaktuelle Frage der Herausbildung von kommunistischem als gründlich revolutionärem Bewusstsein in der Arbeiterbewegung anlässlich der Leninschen Weiterentwicklung der Revolutionstheorie noch zu sprechen kommen. Festgehalten sei, dass die „Deutsche Ideologie“ die beiden entscheidenden Komponenten dieses Prozesses heraushebt: Einmal ist hierfür vorausgesetzt der objektive Klassengegensatz des Proletariats zur Kapitalistenklasse; er bildet zusammen mit den unerträglichen Bedingungen der Ausbeutung und Verelendung die Grundlage für ein sich entwickelndes revolutionäres Bewusstsein. Zum anderen aber – und dies hat erst Lenin umfassend geklärt – kann sich dieses spontan revolutionäre und spontan kommunistische Bewusstsein nur als wissenschaftlich politisches Klassenbewusstsein entfalten, indem es sich mit den höchsten Errungenschaften des theoretischen Denkens der Menschheit vereinigt. Diese Errungenschaften aber sind zunächst Tat und Besitz der fortgeschrittensten Vertreter nichtproletarischer Klassen. Bei ihnen kann kommunistisches Bewusstsein – zunächst nur Begriff für antikapitalistisches, die Partei des Proletariats ergreifendes Bewusstsein –, wie die „Deutsche Ideologie“ betont, „… vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse …“ sich bilden. (Vgl. ebenda.) Dadurch also, dass die unerträgliche Lage der Arbeiter [werktätigen Frauen und Männer] im Kapitalismus überhaupt zum Gegenstand der theoretischen und philosophischen Analyse gemacht wird. Die Geschichte dieses Vorgangs hat Engels in den berühmten Titel seiner Arbeit „Von der Utopie zur Wissenschaft“ zusammengefasst.

7/220 Ebenda, S. 69 f.

8/221 Vgl. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1962, S. 21.

9/222 Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 70.

10/223 Ebenda.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.30. Die revolutionäre Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und die Verkehrung der Produktivkräfte in „Destruktivkräfte“, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

04.08.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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