Kapitalistische Großindustrie und objektive Bedingungen für den Übergang zur sozialistischen Produktionsweise

von Otto Finger

In einer dritten Periode bilden sich schließlich jene Widersprüche aus, deren Analyse Marx und Engels zur Theorie der Revolution des Proletariats und – damit unmittelbar verflochten – zur Begründung der notwendig kommunistischen Entwicklungsstufe der Menschheit führten. Es ist die Periode, in welcher der industrielle Kapitalismus sich herausbildet. England, das Land, in dem sich Handel und Manufaktur konzentrierten, erhielt einen relativen Weltmarkt, dessen Nachfrage durch die Manufaktur nicht mehr befriedigt werden konnte. Diese Faktoren schufen hier erstmalig die „… große Industrie – die Anwendung von Elementarkräften zu industriellen Zwecken, die Maschinerie und die ausgedehnteste Teilung der Arbeit …“ [1/169]

Die große Industrie bewirkte die folgenden Vorgänge, in denen sowohl die beherrschende Stellung der Bourgeoisie, die vollständige Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sich ausdrückten als auch die objektiven Bedingungen für den revolutionären Übergang in die sozialistische Produktionsweise:

Die große Industrie verwandelt alles Kapital in Industriekapital.

Sie erzeugt die rasche Zirkulation und Zentralisation des Kapitals.

Die Konkurrenz wird „universalisiert“ [‘globalisiert’], der Konkurrenzkampf der Kapitalisten untereinander beherrscht ebenso das Leben der bürgerlichen Nationen wie der allseitige Konkurrenzkampf der kapitalistischen [imperialistischen] Nationen miteinander [und gegeneinander] das Weltgeschehen prägt. Die Konkurrenz ist zunächst ein Hebel, der „… alle Individuen zur äußersten Anspannung ihrer Energie“ zwingt. [2/170] Später wird gerade das der Konkurrenz zugrunde liegende Privateigentum zur Fessel der produktiven Energien der Gesellschaft: Die Konkurrenz verhütet ihre gesamtgesellschaftliche Entfaltung.

Die große Industrie unterwirft die Naturwissenschaft dem Kapital.

Die große Industrie schafft die modernen Kommunikationsmittel.

Sie erzeugt den [kolonialistischen, neokolonialistischen, imperialistischen] Weltmarkt.

Sie vernichtet die überkommenen Ideologien, Religionen, Moralgesetze, „… und wo sie dies nicht konnte, machte sie sie zur handgreiflichen Lüge.“ [3/171]

Für das Möglichwerden einer radikalen Revolution, die alle alten Einrichtungen und Ideen umwälzt, ist letzteres nicht unwesentlich: Der Kapitalismus [aktuell psychologisch-manipulatorisch modern: “Soziale Marktwirtschaft“] selbst beginnt, indem er das Geld zum Maß aller Werte macht, ideologische Stützen der Ausbeutergesellschaft in Frage zu stellen. Er streift den gesellschaftlichen Verhältnissen ihre „Naturwüchsigkeit“ ab. Die große Industrie „… vernichtete überhaupt die Naturwüchsigkeit, soweit dies innerhalb der Arbeit möglich ist, und löste alle naturwüchsigen Verhältnisse in Geldverhältnisse auf“[4/172]. Das heißt, er löst die tatsächlich bis auf naturgegebene Unterschiede, z. B. auf Geschlechterunterschiede, zurückreichende Familienbeziehungen und Arbeitsteilungen auf. Die Beziehungen der Menschen in der Produktion werden nun keineswegs mehr nur durch solche naturwüchsigen, aus der biologischen Natur des Menschen herauswachsenden Eigentümlichkeiten bestimmt, sondern immer offenkundiger durch gesellschaftlich erzeugte, vom Profitstreben, Erfordernissen der Produktionssteigerung usf. geschaffene Bedingungen. Ihre Sanktionierung als „natürliche“ Verhältnisse der Unterordnung oder von Gott verfügte wird brüchig. Auch dadurch, wie hier zu wiederholen ist, dass das Geld an die Stelle des persönlichen Abhängigkeitsverhältnisses tritt.

Gleichwohl bedient sich die Bourgeoisie in ausgedehntestem Maße aller alten und unter ihren Herrschaftsbedingungen neu produzierten Ideologien: Sie werden zur „handgreiflichen Lüge“. Also nicht bloß zwangsläufig zu falschem Bewusstsein, sondern auch zur bewusst produzierten und eingesetzten Täuschung. Eine zusammenfassende Charakteristik der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus als solcher Verhältnisse, in denen auf eine gegenüber dem Feudalismus völlig neue Art produziert wird, geben Marx und Engels anhand einer Untersuchung des Wechselverhältnisses zwischen Produktionsinstrumenten und Eigentumsformen. Diese Charakteristik fasst den kapitalistischen Fortschritt – den Fortschritt „zivilisierter“ gegen „naturwüchsige“ Produktionsinstrumente – in seiner Widersprüchlichkeit und der Möglichkeit der kommunistischen Aufhebung.

Ausgangspunkt der vergleichenden Untersuchung ist die „ausgebildete Teilung der Arbeit“ mit ihrem ausgedehnten Handel auf der einen Seite und die feudale „Lokalität“ auf der andern. Als Typenunterschiede ergeben sich:

1. Im Kapitalismus werden die Individuen „zusammengebracht“, für die Zwecke der Produktion vereinigt, vergesellschaftet. Vordem „finden sie sich neben dem gegebenen Produktionsinstrument selbst als Produktionsinstrument vor“, d. h., es bedarf keiner besonderen Organisation der Individuen zum Zwecke der Produktion.

2. Der Kapitalismus ordnet die arbeitenden Individuen Produktionsinstrumenten unter, die selbst erst Produkte von Arbeit sind. Vordem geschieht ihre Unterordnung unmittelbar unter die „Natur“, d. h. unter solche „naturwüchsigen Produktionsinstrumente“ wie den Acker, das Wasser usf.

3. Eigentum ist im Falle des Kapitalismus Herrschaft des Kapitals, der „akkumulierten Arbeit“. Vordem erscheint „das Eigentum (Grundeigentum) als unmittelbare, naturwüchsige“ Herrschaft. Und zwar gerade deshalb, weil ja hier der Mensch an ein „naturwüchsiges“ Produktionsinstrument gebunden ist.

4. Kapitalismus bedeutet, dass die Individuen unabhängig voneinander sind und nur durch den Austausch zusammengehalten werden. Sie sind also durch die kapitalistische Industrie unabhängig geworden von den feudalen Fesseln, unabhängig auch von den naturwüchsigen und sonstigen Produktionsinstrumenten. Letztere wurden ihnen ja mit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals geraubt. Der Zusammenhang der Individuen in der Produktion hat nichts mehr mit den vorherigen Bindungen zu tun. Es ist ein durch die neuen Produktionsinstrumente, die Industrie, die Maschinerie, die Technik, die Arbeitsteilung innerhalb der kapitalistischen Fabrik hergestellter. Er stellt sich auf dieser Basis durch den Austausch der Arbeitsfertigkeiten und den Austausch der Produkte her. Der Austausch der ersteren geschieht nur über den Verkehr der letzteren miteinander, als Verkehr von Waren, während in der vorkapitalistischen Produktionsweise „hauptsächlich ein Austausch zwischen Mensch und Natur, ein Austausch, in dem die Arbeiten der einen gegen die Produkte der andern (der Natur; o. F.) eingetauscht werden“, stattfindet.

5. Im Kapitalismus wird die Trennung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit umfassend vollzogen. Vordem „reicht der durchschnittliche Menschenverstand hin, körperliche und geistige Arbeit sind noch gar nicht getrennt“. Marx und Engels verweisen so darauf, dass die kapitalistische Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit eine Notwendigkeit zur Steigerung der Produktivität beider ist. Überhaupt haben Marx und Engels nirgendwo in Frage gestellt, dass hochentwickelte Produktion undenkbar ist ohne hochentwickelte Spezialisierung der physischen und geistigen Kräfte. –

Die Forderung nach Aufhebung der Arbeitsteilung ist also, um dies erneut zu betonen, eine Forderung, die einmal auf den Klasseninhalt dieser Teilung abzielt, zum anderen auf ihre vereinseitigte, die Persönlichkeit des Menschen deformierende Konsequenz, solange sie vom Kapital diktiert wird.

6. Im Kapitalismus nimmt die Herrschaft des Menschen über den Menschen, von besitzendem Ausbeuter über den besitzlosen Ausgebeuteten eine sachliche Gestalt an. Sie nimmt in einem „Dritten“, dem Geld, diese Gestalt an. Vordem kann die Herrschaft „auf persönlichen Verhältnissen, eine Art Gemeinwesen“ beruhen. Der Kapitalismus löst in diesem Sinne die menschlichen Gemeinschaften, die persönlichen Bindungen auf. An ihre Stelle tritt das Geld.

7. Die kapitalistische Industrie besteht nur „in und durch die Teilung der Arbeit“. Vordem gab es nur die kleine Industrie, „subsumiert unter die Benutzung des naturwüchsigen Produktionsinstruments, und daher ohne Verteilung der Arbeit an verschiedene Individuen“.

Die für den sozialökonomischen Inhalt der sozialistischen Revolution, nämlich Aufhebung des privatkapitalistischen Eigentums, wesentliche Schlussfolgerung aus dieser Untersuchung lautet: Das Privateigentum ist für bestimmte Entwicklungsstufen der Produktion notwendig, nicht aber für alle. –

Mit der großen Industrie kommt es zum Widerspruch zwischen Produktionsinstrumenten und Privateigentum:

Wir gingen bisher von den Produktionsinstrumenten aus, und schon hier zeigte sich die Notwendigkeit des Privateigentums für gewisse industrielle Stufen. In der industrie extractive (Industrie, die ihren Arbeitsgegenstand von Natur vorfindet) fällt das Privateigentum mit der Arbeit noch ganz zusammen; in der kleinen Industrie und aller bisherigen Agrikultur ist das Eigentum notwendige Konsequenz der vorhandenen Produktionsinstrumente; in der großen Industrie ist der Widerspruch zwischen dem Produktionsinstrument und Privateigentum erst ihr Produkt, zu dessen Erzeugung sie bereits sehr entwickelt sein muss. Mit ihr ist also auch die Aufhebung des Privateigentums möglich.“ [5/173] –

Die große Industrie erzeugt also nicht bloß – wie in vorausgegangenen Produktionsstufen – einen Widerspruch zwischen Produktionsinstrument und bestimmter Form des Privateigentums, sondern zwischen Produktion und Privateigentum überhaupt. Nicht des Eigentums schlechtweg: Kommunismus bedeutet gesellschaftliches Eigentum. Das Privateigentum hat in seiner bürgerlichen Form seine historisch letzte Stufe erreicht; es wird beseitigt, weil es mit dem gesellschaftlichen Fortschritt in Widerspruch gerät. –

Die klassische Zusammenfassung der zur Aufhebung des Privateigentums treibenden Widersprüche gibt das „Manifest der Kommunistischen Partei“ wie folgt an:

Alle Eigentumsverhältnisse waren einem beständigen geschichtlichen Wechsel, einer beständigen geschichtlichen Veränderung unterworfen.

Die französische Revolution z. B. schaffte das Feudaleigentum zugunsten des bürgerlichen ab.

Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums.

Aber das moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, die auf der Ausbeutung der einen durch die andern beruht.

In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen …

Kapitalist sein, heißt nicht nur eine rein persönliche, sondern eine gesellschaftliche Stellung in der Produktion einnehmen. Das Kapital ist ein gemeinschaftliches Produkt und kann nur durch eine gemeinsame Tätigkeit vieler Mitglieder, ja in letzter Instanz nur durch die gemeinsame Tätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft in Bewegung gesetzt werden.

Das Kapital ist also keine persönliche, es ist eine gesellschaftliche Macht.

Wenn also das Kapital in gemeinschaftliches, allen Mitgliedern der Gesellschaft angehöriges Eigentum verwandelt wird, so verwandelt sich nicht persönliches Eigentum in gesellschaftliches. Nur der gesellschaftliche Charakter des Eigentums verwandelt sich. Es verliert seinen Klassencharakter.“ [6/174]«

Anmerkungen

1/169 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 69.

2/170 Ebenda, S. 60.

3/171 Ebenda.

4/172 Ebenda.

5/173 Ebenda, S. 66. (Die unter Punkt 1–7 gebrachten Belege vgl. ebenda, S. 65, 66.)

6/174 Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 475 f.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.22. Kapitalistische Großindustrie und objektive Bedingungen für den Übergang zur sozialistischen Produktionsweise, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

24.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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