Leistungen und Grenzen der Marxschen revolutionstheoretischen Einsichten von 1844

von Otto Finger

Wir haben schon im 1. und 3. Kapitel darauf hingewiesen, dass Marx in die ökonomisch-philosophischen Analysen der „Manuskripte“ das Thema der Revolution als praktische und politische Frage direkt einbegreift. Darauf verweisen Formulierungen wie die, wonach die Aufhebung der Entfremdung nur das Ergebnis der „politischen Arbeiteremanzipation“ sein kann. Auch das Wort von der Aufhebung des Privateigentums, die nur durch eine „wirksame kommunistische Aktion“ zu bewerkstelligen sei. Dass Marx zur Zeit der Abfassung der „Manuskripte“ völlig davon überzeugt war, dass die Überwindung der alten Gesellschaft nur auf sozialistisch revolutionärem Wege möglich ist, belegt ein im gleichen Jahr abgefasster Aufsatz sehr deutlich. Zudem macht er klar, in wie unmittelbarem Zusammenhang die Geburt der wissenschaftlichen Theorie der sozialistischen Revolution mit der proletarischen revolutionären Praxis steht. –

Es ist der Aufsatz „Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen“. [1/123] Marx nimmt hier zum Wesen des schlesischen Weberaufstandes von 1844 als einer Klassenschlacht des Proletariats gegen die Bourgeoisie Stellung, zur sozialen und politischen Revolution, zur Rolle des Staates in der Gesellschaft. Marx begegnet uns hier noch partiell in der Redeweise der „Einleitung zur Kritik zur Hegelschen Rechtsphilosophie“ und der „Judenfrage“, also des Unterschieds zwischen allgemein menschlicher als radikaler Revolution und der politischen als beschränkter Revolution. [2/124] Marx erkennt in dem schlesischen Weberaufstand einen Vorboten der radikalen, über die politischen Herrschaftsverhältnisse sowohl der feudal-absolutistischen als auch bürgerlichen Gesellschaft hinausgehenden Revolution. Diese bezeichnet er jetzt als soziale Revolution, die ganze Gesellschaft befreiend, zum Unterschied von der politischen, die nur eine Klasse befreit. –

Angesichts der politischen Schwäche der deutschen Bourgeoisie und der nunmehr offenbar werdenden Kraft des deutschen Proletariats kann Marx sagen, dass Deutschland den „klassischen Beruf zur sozialen Revolution besitzt, wie es zur politischen unfähig ist.“ [3/125] Marx betont, dass eine qualitative Besonderheit des Weberaufstandes gegenüber den französischen und englischen Arbeiteraufständen das höhere Maß an Klassenbewusstsein ist. Er bezieht sich auf das Weberlied, worin das Proletariat seinen Gegensatz gegen die kapitalistische Gesellschaft in „schlagender, scharfer, rücksichtsloser, gewaltsamer Weise hinausschreit.“ [4/126] Der Weberaufstand beginnt mit dem Bewusstsein des Wesens des Proletariats, seine Aktionen richteten sich nicht nur gegen die Maschinen als die „Rivalen“ der Arbeiter und nicht nur gegen den Industrieherren als den sichtbaren Feind, sondern auch gegen den Bankier, den versteckten Feind.

Die soziale Revolution, betont Marx, befindet sich auf dem Standpunkt des Ganzen, sofern sie eine „Protestation des Menschen gegen das entmenschte Leben ist, weil sie vom Standpunkt des einzelnen wirklichen Individuums ausgeht, weil das Gemeinwesen, gegen dessen Trennung von sich das Individuum reagiert, das wahre Gemeinwesen des Menschen ist, das menschliche Wesen.“ [5/127] Haben wir es hier mit dem Einbruch von Anthropologie, abstraktem Humanismus, gar auch Individualismus in die sich formierende Theorie der Revolution zu tun? Zunächst: Die Terminologie ist weitgehend dieselbe wie die der „Manuskripte“, also eine durchaus noch an Feuerbach angelehnte Redeweise. Aber ebenso wie dort bewegt sich auch hier neuer, proletarischer Klasseninhalt in ihr. Desgleichen gilt: Dieser neue Klasseninhalt ist noch nicht vollständig durchgebildet, entfaltet sich noch nicht auch im begrifflichen terminologisch klaren Gegensatz zur vorgefundenen anthropologischen Philosophie. „Protestation des Menschen“, das meint hier selbstredend primär die Rebellion des in der entfremdeten Arbeit entmenschten Proletariats, „Gemeinwesen“, das ist „Gattungsleben“, gesellschaftliche Produktion, „wirkliches Individuum“, das ist der arbeitende Mensch.

Die politische Seele einer Revolution besteht dagegen in der Tendenz der politisch einflusslosen Klasse, ihre Isolierung vom Staatswesen und von der Herrschaft aufzuheben.“ [6/128] Die Revolution des Proletariats, dies ist der Marxsche Standpunkt von 1844, kann keine nur politische sein, eben weil sie mit der Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums die Grundlagen für die Klassengegensätze, damit aber für den Staat als Instrument der Herrschaft und Unterdrückung beseitigt. –

Erst die Erfahrungen der 1848er Revolution und umfassender noch der Pariser Kommune von 1871 boten die praktisch-gesellschaftliche Basis, um diese noch abstrakte Sicht, den Mangel an Erkenntnissen über die Notwendigkeit der Errichtung einer sozialistischen Staatsmacht, ihre gesellschaftlichen Führungsaufgaben zu überwinden, die konkrete Theorie der Diktatur des Proletariats als des Organs nicht bloß der Sicherung der revolutionären Errungenschaften, sondern auch ihres planmäßigen, bewussten Ausbaus zu begründen. –

Immerhin aber ist sich Marx jetzt schon – und darin haben Einsichten in das Wesen des alten absolutistischen und bürgerlichen Staates ebenso Anteil wie die Verallgemeinerung der Erfahrungen des schlesischen Weberaufstandes und der ganzen bisherigen revolutionären Erhebungen des Proletariats – über eins im klaren: Auch die sozialistische Revolution des Proletariats wird eine politische Revolution sein. Es wird die politische Revolution mit „sozialer Seele“ sein, ihr sozialistischer Inhalt wird über die politische Form hinaustreiben, sie selbst und die von ihr freigemachten Kräfte werden über alle alten Maßstäbe, alle alten Vorstellungen hinausführen:

Die Revolution überhaupt – der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten nVerhältnisse – ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und der Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg.“ [7/129]

Hierin lassen sich Leistungen und Grenzen des Marxschen Standpunktes zur Revolution, wie er sich bislang auf der Basis der gewonnenen ökonomischen Erkenntnisse, des materialistisch-dialektischen Begreifens der Geschichte, der Formierung des proletarischen Klassenstandpunktes und der Verallgemeinerung der aufbrechenden Klassenwidersprüche zwischen Arbeitern und Kapitalisten herausbildete, so zusammenfassen:

Erstens. Der Sozialismus kann nur als Ergebnis einer Revolution verwirklicht werden.

Zweitens. Es ist die Revolution der [differenzierten und wissenschaftlich-technischen] Arbeiterklasse [der vereinten werktätigen Frauen und Männer].

Drittens. Diese Revolution ist eine politische Aktion, worin die bestehende Gewalt, also der alte Staat, gestürzt wird.

Viertens. Mittels dieser politischen Revolution werden die alten gesellschaftlichen Verhältnisse, die Produktionsverhältnisse, aufgelöst.

Fünftens. Die organisierende Tätigkeit des Sozialismus geschieht ohne politische HülleMarx verkennt, dass der Aufbau der neuen kommunistischen Gesellschaft nur mittels eines neuen staatlichen Machtvorgangs zu verwirklichen ist

Anmerkungen

1/123 »Dieser Aufsatz erschien im „Vorwärts“ (von Januar bis Dezember 1844 in Paris herausgegeben) und kritisierte die reaktionären preußischen Verhältnisse. Auch Friedrich Engels publizierte in diesem Organ. So Aufsätze über die Lage Englands. Marx’ Aufsatz polemisiert mit Arnold Ruge und dessen Fehleinschätzung der Reaktion des preußischen Königs auf den schlesischen Weberaufstand.«

2/124 »In der „Judenfrage“ heißt es: „Die politische Revolution ist die Revolution der bürgerlichen Gesellschaft.“ (K. Marx, Zur Judenfrage, In: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 1. Berlin 1956, S. 367.) Ferner: „Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andrerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. –

Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ,forces propres’ (seine eignen Kräfte; O. F.) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (Ebenda, S. 370.) –

Menschliche Emanzipation ist hier folglich ein Ausdruck zur Bezeichnung des Resultats der kommunistischen Umwälzung als kommunistischer Aufhebung aller Klassenunterschiede

3/125 Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen, S. 405.

4/126 Ebenda, S. 404.

5/127 Ebenda, S. 408.

6/128 Ebenda.

7/129 Ebenda, S. 409.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie von Otto Finger. Vgl.: 5.16. Leistungen und Grenzen der Marxschen revolutionstheoretischen Einsichten von 1844, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

15.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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