Philosophie der Revolution – Führungstätigkeit und Ideologiekritik

Fragen der ideologischen Führungstätigkeit und der materialistisch-dialektischen Ideologiekritik in Lenins Volkstümlerkritik

Von Otto Finger

Lenins Arbeiten zur Auseinandersetzung mit den Volkstümlern – neben dem Werk „Was sind die ,Volksfreunde’…“ Vor allem die Schrift „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung“ – vereinigen in puncto Ideologie ebenso wie die Marxschen und Engelschen Werke aus der Entstehungsgeschichte des dialektischen und historischen Materialismus die Kritik der arbeiterfeindlichen Ideologie mit dem Aufbau der Ideologie der Arbeiterklasse. –

Letzteres haben Karl Marx und Friedrich Engels selbst nicht so benannt. Bei ihnen überwiegt der kritische, genauer antibürgerliche Inhalt des Begriffs Ideologie. Sie verstehen unter Ideologie im wesentlichen falsches, idealistisches Geschichts- und Klassenbewusstsein. Die Überwindung dieser vorwissenschaftlichen Ideologie ist bei ihnen bereits in der Periode bis zum „Manifest der Kommunistischen Partei“ unlösbar mit der Begründung der wissenschaftlichen sozialistischen Ideologie verbunden.

Lenin erweitert den Inhalt des Begriffs Ideologie um diese wesentliche Seite: Er umfasst nunmehr nicht bloß das falsche, speziell bürgerliche Klassenbewusstsein. Er dient fortan auch zur Bezeichnung des richtigen, sozialistischen Klassenbewusstseins. –

Lenin arbeitet die Tatsache heraus, dass die revolutionäre Arbeiterbewegung ein sozialistisches Klassenbewusstsein entwickelt, das seinem Wesen nach wissenschaftlich und revolutionär ist. –

Wissenschaftliche Ideologie wird möglich und notwendig für die Arbeiterklasse. Lenin unterscheidet nicht nur der Sache nach und implizit, sondern auch in der Redeweise bürgerliche Ideologie von der sozialistischen Ideologie. Die Herausarbeitung ihres unaufhebbaren Gegensatzes – der alle Seiten des geistigen Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft durchdringt, seit die Arbeiterklasse auf dem Boden ihrer wissenschaftlichen Ideologie kämpft – beginnt schon in den Arbeiten Lenins aus den neunziger Jahren. Dort entwickelte er bereits wesentliche Positionen zum Wesen von Ideologie und zu ihrer Rolle im gesellschaftlichen Leben – speziell zu Inhalt und Funktion sozialistischer Ideologie -, die Voraussetzungen für die Theorie der Partei neuen Typs bilden. Damit gehören sie in eine Hauptlinie der Leninschen Weiterentwicklung der Revolutionstheorie.

Lenin deckt als die Klassenwurzel der falschen Geschichtsphilosophie der Volkstümler den Standpunkt des nKleinbürgertums auf. Die kleinbürgerliche Haltung versperrt den Weg zum wissenschaftlichen Verständnis der sozialen Realität des Kapitalismus und der objektiven Voraussetzungen seiner Umwälzung. Lenin liefert dabei ein in der Tat klassisches Stück historisch-materialistischer und dialektischer Ideologieanalyse. Lenin zeigt, wie sich die konkrete Situation des russischen Kleinproduzenten innerhalb der sich entwickelnden kapitalistischen Warenwirtschaft in der Volkstümlerideologie am Ende des Jahrhunderts widerspiegelt. Diese Ideologie selbst wird in ihrer typischen Widersprüchlichkeit, in ihrer Vereinigung reaktionär-utopischer mit fortschrittlichen Momenten gekennzeichnet.

Das Wesen der Volkstümlerrichtung besteht „im Protest gegen die Leibeigenschaft (die altadligen Schichten) und gegen das Bürgerliche (die neubürgerlichten Schichten) in Russland vom Standpunkt des Bauern, des Kleinproduzenten aus“ [1/44]. Dieser Protest aber, betont Lenin weiter am Beginn der Arbeit „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung“, ist weltfremd, hat die Form einer Abkehr von den Tatsachen. Inhalte und Aufgaben der sozialistisch-revolutionären Ideologie werden hier im Gegensatz zu dieser Weltfremdheit als wissenschaftlicher Ausdruck des wirklichen sozialen Lebensprozesses entwickelt.

Worin besteht das Illusorische des volkstümlerischen Protestes gegen den Kapitalismus? Lenin hebt die folgenden Gesichtspunkte heraus:

Die Volkstümler verkennen, dass die durch die Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion bedingte grundlegende Klassenspaltung in Bourgeoisie und Proletariat vor dem Dorf keinen Halt macht. Die Warenwirtschaft verwandelt auch den Bauern in einen für den kapitalistischen Markt produzierenden Warenproduzenten. In diesem gesetzmäßigen Prozess hat der Grundbesitz der Dorfgemeinschaft keine Überlebenschance, geschweige denn, dass aus der Obstschina heraus die Zukunft Russlands zu entwickeln wäre. Es kommt zur reaktionären Utopie: Ein sozialökonomisch der historischen Vergangenheit angehöriges Moment wird in einen Garanten der Zukunft Russlands verkehrt.

Aus der Parteinahme für den bäuerlichen Kleinproduzenten ergibt sich eine reaktionäre und falsche Sicht der kapitalistischen Großproduktion. Sie würde die „Selbständigkeit“ des Produzenten aufheben und sei deshalb zu verurteilen. Die Selbständigkeit des russischen Bauern ist aber ein „rührseliges volkstümlerisches Märchen“, wie Lenin nachweist. Der Unterschied zwischen städtischer Industrie und ländlicher Produktion liegt keineswegs in der Unselbständigkeit dort und der Selbständigkeit der Produzenten hier. Charakteristisch ist für die Stadt wie das Dorf die „kapitalistische Unselbständigkeit“, d. h. die Masse der Menschen ist vom Kapital abhängig geworden. Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts liegt der Unterschied nun mehr darin, dass der Kapitalismus im Dorf unentwickelter ist, mit größeren Resten halbfeudaler Formen des Kapitals, z. B. dem Wucher durchsetzt. Die kapitalistische Ausbeutung wird auf dem Lande mit halbfeudalen Methoden betrieben. Zugleich bildet die relative Unentwickeltheit des Kapitalismus auf dem Dorfe die Grundlage für den reaktionären Traum, dass der städtische Kapitalismus etwas „Künstliches“, eine „Treibhauspflanze“ sei, die von selbst eingehen werde. „Rosarote Schwärmereien“ vermischen sich mit ohnmächtigen Schmähungen des Kapitalismus. [2/45] Eine Wiedergeburt dieser für kleinbürgerliche Ideologie typischen Vermischung von Utopie und Kritik des Bestehenden liefern heutige Träume von einer „postindustriellen“ Gesellschaft, jenseits der Realität von Kapitalismus und Kommunismus. Auch für diese Konzepte gilt, was Lenin für die volkstümlerische Kritik am Kapitalismus zeigt: sie verlässt seinen Boden nicht wirklich. Die utopische Form seiner Verneinung läuft auf seine Bejahung hinaus. Im Falle der Volkstümler vom Standpunkt des kleinen Eigentums der Bauern. Im Falle heutiger Kapitalismuskritik vom Standpunkt der kleinbürgerlichen Intelligenz.

Da die volkstümlerische Ideologie nicht zu den kapitalistischen sozialökonomischen Verhältnissen der russischen Wirklichkeit vordringt, verfehlt sie das Wesen des Staates: „Feindselig gegen den Kapitalismus eingestellt, bilden die Kleinproduzenten eine Übergangsklasse, die sich eng an die Bourgeoisie anschließt und daher nicht bergreifen kann, dass der ihnen unangenehme Großkapitalismus nichts Zufälliges, sondern ein unmittelbares Produkt der ganzen ökonomischen (sowie sozialen, politischen und juristischen) Ordnung ist, die sich aus dem Kampf einander entgegengesetzter gesellschaftlicher Kräfte ergibt. Nur das Unverständnis hierfür kann zu einem solchen absoluten Unsinn führen, wie zu einem Appell an den ,Staat’, als wurzelten die politischen Verhältnisse nicht in den ökonomischen Verhältnissen, als brächten sie diese nicht zum Ausdruck und dienten ihnen nicht.“ [3/46] Es ist somit der trotz aller Kapitalismuskritik bürgerliche Standpunkt der Volkstümler, der den Idealismus der Geschichtsbetrachtung bedingt, eingeschlossen die Illusion, der Appell an den Staat könne bewirken, dass die Gefährdung der Interessen der Kleinproduzenten durch den Großkapitalismus beseitigt werde. Obzwar eine, wie Lenin sagt, „Übergangsklasse“ – ein Teil steigt zur Bourgeoisie auf, ein andrer, größerer Teil wird proletarisiert – überwiegt in der Ideologie der Kleinproduzenten deren Verhaftung an das private Eigentum an Produktionsmitteln.

Die Anschauung von der dominierenden Rolle der gedanklichen Kritik und der „großen“ Persönlichkeit in der Geschichte ist Konsequenz der durch den Standpunkt des Kleineigentümers vermittelten Verhaftung an die bürgerliche Ideologie und der Unfähigkeit, die wirkliche, zwiespältige und letztlich hoffnungslose Lage des Kleinproduzenten zu erkennen. Der Subjektivismus und das Moralisieren sind die Früchte dessen. Sie sind Ausdruck einer ideologischen Flucht aus der Realität und ihrer verkehrten Widerspiegelung in einem.

Als kleinbürgerliche hat die Volkstümlerideologie einen „Januskopf, der mit einem Antlitz in die Vergangenheit und mit dem anderen in die Zukunft schaut, wie der Kleinproduzent im praktischen Leben einen Januskopf hat, der mit einem Antlitz in die Vergangenheit schaut – indem er seinen Kleinbetrieb zu festigen wünscht, von einem allgemeinen ökonomischen System und von der Notwendigkeit, mit der in diesem System herrschenden Klasse zu rechnen, nichts weiß und nichts wissen will, und mit dem anderen Antlitz in die Zukunft schaut – indem er sich gegen den ihn ruinierenden Kapitalismus feindlich einstellt [4/47]“. Aus letzterem entspringen Forderungen allgemeindemokratischer Art, die die Marxisten unterstützen, weil sie geeignet sind, die kapitalistische Entwicklung zu beschleunigen und die Lage der Werktätigen zu verbessern. Lenin verweist auf solche Forderungen wie die nach Verbreitung der Bildung unterm Volk, nach Gewährung von billigen Krediten für die Entwicklung der Volkswirtschaft (worunter Volkstümler vor allem die Kleinwirtschaft verstehen), nach technischen Verbesserungen. All das würde die Entwicklung des inneren Marktes, der Technik und maschinellen Industrie beschleunigen. Mit der technisch-ökonomischen ist die politisch-ideologische Entwicklung verknüpft. Durch die Verbesserung der Lage des Werktätigen und die Hebung des Niveaus seiner Bedürfnisse werden „auch sein selbständiges Denken und Handeln“ erleichtert. [5/48] Lenin geht in dieser Weise differenziert an die Volkstümlerideologie heran: Aufweis ihrer Verwurzelung in den Interessen des Kleinbürgertums, Kritik ihrer reaktionären Grundhaltung, ihrer Unwissenschaftlichkeit hindern ihn keineswegs, jene Züge klarzustellen, durch die sie selbst am Ende des Jahrhunderts noch progressiv wirken kann. Die dialektische Analyse schließt sektiererische Vergröberung aus.

Der Charakter falschen Bewusstseins zeigt sich auch in der Volkstümlerideologie darin, dass sie den Standort des Kleinbürgertums für den der „modernen Wissenschaft“ nimmt. Ihre Vorstellung vom „Rationalen“ in der Geschichte erweist sich als Projektion dieses Standorts in die Geschichte. Den gesellschaftlich handelnden Individuen wird ein rationelles „Sinnen und Trachten“ unterstellt, das von der konkreten sozialen Wirklichkeit soweit abstrahiert, dass in ihm nur die Interessen des Kleinbürgertums zusammengefasst sind. Es ist falsche, einseitige, subjektivistisch-verzerrte Widerspiegelung des sozialen Milieus genau dieser Klasse. [6/49]

Die Volkstümerideologie ist metaphysisch, kennt nur das scheindialektische Beisammensein von „guter“ und „schlechter“ Seite am gegebenen sozialen Phänomen und wiegt sich in der Illusion, man könne die schlechte beseitigen. Lenins Kritik nimmt die ganze analoge Polemik Marx’ gegen die – gleichfalls im Protest des Kleinbürgertums gegen das große kapitalistische Eigentum verwurzelte – Proudhonsche Pseudodialektik unter den neuen Bedingungen wieder auf. [7/50] In folgendem liegt, wie Lenin sagt, der volkstümlerische Gedankengang in „Reinkultur“ vor: „das erbärmliche Niveau der Produktion und die Ausbeutung der Arbeit des Kustars sind die schlechten Seiten der herrschenden Verhältnisse. Aber der Kustar ist kein Lohnarbeiter, und das ist die gute Seite. Die gute Seite muss beibehalten und die schlechte beseitigt werden …“ [8/51]

Lenin formuliert Grundzüge der sozialistischen als einer lebensverbundenen, wissenschaftlichen und revolutionären Ideologie in Kontraposition zu den skizzierten Merkmalen des volkstümlerischen Denkens. Die sozialistische Ideologie ist wahrhaftig und realistisch, feind jeder Verklärung der Realität. Ja, es ist eine ihrer obersten Aufgaben, diese „schöngeistige Lüge“ zunichte zu machen. Marxisten haben die erstrangige Pflicht „sich nicht selbst zu betrügen“. Sie müssen den Mut haben, „der Wirklichkeit ins Auge zu sehen.“ [9/52] Genau das bezeichnet Lenin als ein Charaktermerkmal der „Ideologen der werktätigen Klassen.“

Aus diesem Realismus ergibt sich die Haltung zu Inhalt und Rolle sozialer Ideale. Der traditionelle Begriff vom Ideal als einem überhistorischen Absolutum, einem höchsten, jede konkrete Situation überschreitenden Wert, wird umgewälzt, konkretisiert zum Begriff für Aufgaben und Ziele des praktischen Klassenkampfes. An die Stelle der Spekulation über Ideale tritt die Festlegung von Inhalten sozialistischer Ideologie. „… wenn die Ideologen der werktätigen Klasse dies begreifen (dass man die Wirklichkeit so nehmen muss, wie sie ist; O. F.) und sich zu eigen machen, dann werden sie anerkennen, dass die ,Ideale’ … darin bestehen müssen, die Aufgaben und Ziele jenes ,harten Kampfes der sozialen Klassen’ zu formulieren, der sich vor unseren Augen in unserer kapitalistischen Gesellschaft abspielt; dass der Erfolg ihrer Bestrebungen nicht an der Ausarbeitung von Ratschlägen für die ,Gesellschaft’ und den ,Staat’ gemessen wird, sondern daran, wie weit diese Ideale in einer bestimmten Klasse der Gesellschaft verbreitet sind; dass die höchsten Ideale keinen roten Heller wert sind, solange man es nicht versteht, sie unlöslich mit den Interessen derer zu verschmelzen, die den ökonomischen Kampf austragen, sie mit den ,beschränkten’ und kleinen Alltagsfragen der betreffenden Klasse … zu verschmelzen …“ [10/53]

Hiermit hat Lenin in der Tat Hauptpunkte des ganzen Programms der ideologischen Führungstätigkeit der Partei der Arbeiterklasse angegeben:

Erstens. Sie formuliert Aufgaben und Ziele des Klassenkampfes, von dessen konkreter Realität sie ausgeht.

Zweitens. Sie organisiert die Verbreitung und Befestigung eben dieses kämpferischen Klassenbewusstseins.

Drittens. Sie muss es verstehen, das Bewusstsein solcher Ziele mit den praktisch-ökonomischen Interessen der Klasse, eingeschlossen ihre Alltagsfragen, unauflöslich zu verschmelzen.

An die Stelle der unverbindlichen Phrase und der Projektemacherei setzt Lenin die konkrete Gesellschaftsanalyse und in deren Ergebnis zu bestimmende konkrete Kampfaufgaben.

Von daher ergibt sich die absolute Unverträglichkeit sozialistischer Ideologie mit Moralpredigten über das Wünschenswerte, mit aller die Realität verschleiernden Romantik. Ja, Lenin formuliert es geradezu als ein moralisches Postulat an diese Ideologie der Arbeiterklasse, an diejenigen, die sie zu entwickeln und zu verbreiten haben, die Wahrheit nicht zu beschönigen. [11/54] –

Die Ideologen der Arbeiterklasse haben die Pflicht, das gerade Gegenteil der Volkstümler – und aller subjektivistischen Ideologen – zu tun, die die Gesellschaftswissenschaft in eine „Sammlung der Erbauung dienender Belehrungen über kleinbürgerliche Moral verwandelten“. [12/55]

Die sozialistische Ideologie geht von der Realität aus und ist der auf die objektiven nKlassenziele der Arbeiter bezogene Ausdruck ihrer theoretischen Durchdringung. Der Marxismus, betont Lenin, „sieht sein Kriterium in der Formulierung und in der theoretischen Erklärung des sich vor unseren Augen abspielenden Kampfes der gesellschaftlichen Klassen und der ökonomischen Interessen“. [13/56] Die Auffassungen des marxistischen Revolutionärs müssen sich stets „auf die Übereinstimmung der Theorie mit der Wirklichkeit und der Geschichte der gegebenen … sozialökonomischen Verhältnisse“ [14/57] gründen.

Zu dieser Wirklichkeit, zu dieser historischen Entwicklung der Verhältnisse gehört allerdings auch die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse. Ehe Lenin des Näheren untersucht, warum und wie das sozialistische Bewusstsein in die Arbeiterklasse hineingetragen werden muss, klärt er die objektiven Grundlagen hierfür in der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Lenin zeigt, wodurch die Entwicklung des Kapitalismus selbst, vor allem der industriellen Großproduktion, zur Formierung des Klassenbewusstseins der Arbeiter beiträgt. –

Die kapitalistische Industrie bewirkt nicht nur die Verschmelzung der vielen Märkte zu einem gesamtnationalen Markt, die Erhöhung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, die Unterordnung der Werktätigen unter das große Kapital – statt unter die „Unmenge kleiner wohlgesinnter Blutsauger“. Sie bewirkt dabei auch eine progressiven ideologischen Prozess. Nicht zuletzt ist die Unterordnung der Werktätigen unter das Regiment des Kapitals fortschrittlich gegenüber den Verhältnissen der bäuerlichen Kleinproduktion und der feudalen Zersplitterung. Sie ist nach Lenin fortschrittlich im Vergleich zur letzteren – „ungeachtet aller Schrecken der Unterjochung der Arbeit, der hohen Sterblichkeit, der Verrohung, der Verkrüppelung des Organismus der Frauen und Kinder usw. – weil sie das Denken der Arbeiter weckt, weil sie die dumpfe und unklare Unzufriedenheit zu bewusstem Protest werden lässt, weil sie das sinnlose, vereinzelte Rebellieren im kleinen in den organisierten Klassenkampf für die Befreiung aller werktätigen Menschen verwandelt, in einen Kampf, der seine Kraft aus allen Existenzbedingungen dieses Großkapitalismus schöpft und daher unbedingt auf einen sicheren Erfolg rechnen kann“. [15/58]

In der Arbeit „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung“ betont Lenin den gleichen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Großproduktion, Formierung des Selbstbewusstseins der Arbeiterklasse und ihrer Befähigung zum Klassenkampf sowie zur Emanzipation aller Werktätigen.

Lenin unterstreicht hier, „dass allein der auf rationeller Produktion beruhende Großkapitalismus den Produzenten in Verhältnisse versetzt, die es ihm ermöglichen, das Haupt zu erheben, sich Gedanken zu machen und sowohl für sich als auch für diejenigen etwas zu unternehmen, die sich der zurückgebliebenen Produktion wegen nicht unter solchen Bedingungen befinden“. [16/59]

Die kapitalistische Industrie treibt nicht allein zur Herausbildung des Proletariats zur „Klasse an sich“, sondern auch zu seiner Formierung als „Klasse für sich“. Lenin unterscheidet in diesem Sinne zwischen dem, was er tatsächlich und was es in seinem Bewusstsein als Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist. Die Herausbildung ihres eigenen Klassenbewusstseins ist dabei die Bedingung für ihre Führungsrolle gegenüber der unmittelbaren Produzentenklasse der werktätigen Bauern. –

Nur „wenn die unmittelbaren Produzenten, die unter diesen fortgeschrittenen Verhältnissen arbeiten, nicht nur tatsächlich, sondern auch in ihrem Bewusstsein ,vom Leben’ der bürgerlichen Gesellschaft ,differenziert’ sein werden, dann wird auch die in rückständige, schlechtere Verhältnisse gestellte werktätige Bauernschaft sehen, ,wie es gemacht wird’, und sich ihren ,für fremde Taschen’ schuftenden Arbeitsgenossen anschließen.“ [17/60]

Die sozialistische Ideologie ist zunächst nicht Ideologie von unmittelbaren Produzenten schlechtweg, sondern der Arbeiterklasse. Allerdings klärt sie die sozialistische Entwicklungsperspektive jener zahlreichen „Übergangsklasse“ unmittelbarer Produzenten, wie sie die werktätige Bauernschaft darstellt. Aber sie vermag das nur dadurch, dass sie sich streng auf die kämpfende Arbeiterklasse orientiert, scharf die Grenzlinie zum Kleinbürgertum zieht. In diesem Sinne fordert Lenin, dass man nicht zum Ideologen des unmittelbaren Produzenten werden dürfe, „der abseits vom Kampfe steht, sondern desjenigen, der mitten im heißesten Kampfe steht, der bereits endgültig ,vom Leben’ der bürgerlichen Gesellschaft ,differenziert ist’“ [18/61]

Die sozialistische Ideologie wird somit genau in dem Maße revolutionär wirksam, wie sie an die Arbeiterklasse und die Notwendigkeit ihres Kampfes gegen die ihr feindliche Klasse der Bourgeoisie appelliert. Ideologische Arbeit, das ist Tätigkeit zur Formierung von Klassenbewusstsein. [19/62] –

Ferner: Ideologische Arbeit, das ist Kampf gegen die Verwischung dieses Klassenbewusstseins. Hauptinhalt und Hauptaufgabe der ideologischen Tätigkeit der revolutionären Partei bringt Lenin hierbei auf diese Kurzformel: Es ist der ausschließliche Dienst an der selbständigen Entwicklung der Arbeiterklasse und ihres selbständigen Denkens. [20/63] Dazu gehört insbesondere die scharfe Kritik solcher kleinbürgerlicher Theorien, die sich als sozialistisch ausgeben. Sie sind, wie Lenin betont, unbedingt reaktionär, insoweit sie als sozialistische Theorien auftreten.

Für die Lösung beider Aufgaben, die Entwicklung des selbständigen politischen Handelns und Denkens der Arbeiterklasse sowie den Kampf gegen jeden kleinbürgerlichen Pseudosozialismus, ist theoretische Arbeit notwendig. Zur ideologischen Führungstätigkeit der Partei gehört unabdingbar die Entwicklung der Theorie. Was Lenin als die Kernfragen für die theoretische Arbeit der sozialistischen Intelligenz heraushebt, erweist sich als Programm für die Grundaufgaben der Ausarbeitung und Entwicklung der Theorie durch die Partei. Es ist die Begründung eines Programms theoretischer Arbeit, deren Wissenschaftlichkeit unauflöslich mit sozialistischer Parteilichkeit und revolutionärer Zielsetzung verknüpft ist. Wir haben es mit der Einheit von wissenschaftlicher Theorie und revolutionärer Ideologie der Arbeiterklasse zu tun.

Als Kernstück der theoretischen Arbeit hebt Lenin die Aufdeckung der Widerspruchsdialektik der gesellschaftlichen Entwicklung hervor. Erneut bezeichnet dabei Lenin den Materialismus, seine Verbreitung in den Reihen der Sozialisten, als das Unterpfand für die Lösbarkeit dieser theoretischen Aufgabe. Er spricht vom Materialismus als der „einzig wissenschaftlichen Methode“, Garant dafür, das das politische Programm „den tatsächlichen Prozess genau formuliert“. [21/64] Die Allseitigkeit und Konkretheit der Untersuchung schließt ein, dass sie bis an den Punkt der revolutionären Sprengung des kapitalistischen Systems durch die Arbeiterklasse geführt wird.

Die „theoretische Arbeit wird dabei in der konkreten Untersuchung aller Formen des wirtschaftlichen Antagonismus in Russland, in der Untersuchung ihres Zusammenhangs und ihrer folgerichtigen Entwicklung bestehen müssen“ [22/65]. Insbesondere kommt es hierbei darauf an, die sozialökonomischen Widersprüche aus ihrer politischen und juristischen Verschleierung herauszulösen. Desgleichen gilt es, die Vorurteile zu beseitigen, durch welche diese Widersprüche verdeckt werden. –

In diesem umfassenden Sinne versteht Lenin die theoretische Arbeit durchaus als Ideologiekritik: „… sie muss diesen Antagonismus überall bloßlegen, wo er durch die politische Geschichte, durch die Besonderheiten der Rechtsverhältnisse und durch eingewurzelte theoretische Vorurteile verhüllt wird[23/66]. –

Die Analyse des Kapitalismus als eines konkret-historischen Systems von Produktionsverhältnissen, die notwendig die Ausbeutung der Arbeiter erzeugen, mündet in der Begründung des „Auswegs“ aus ihm, der Revolution: „Sie muss ein in sich geschlossenes Bild unserer Wirklichkeit als eines bestimmten Systems von Produktionsverhältnissen geben, die Notwendigkeit der Exploitation und Expropriation der Werktätigen unter diesem System zeigen, sie muss den Ausweg aus diesen Zuständen zeigen, auf den die wirtschaftliche Entwicklung hinweist.“ [24/67]

Zwischen der theoretischen Arbeit und den spontanen Entwicklungsprozessen proletarischen Bewusstseins besteht eine Wechselbeziehung. Ihre objektive Grundlage sind die sozialökonomischen Entwicklungsprozesse des Kapitalismus, die Erzeugung eines massenhaften Proletariats, die sich verschärfende Ausbeutung des Proletariats, die Herausbildung einer industriellen Reservearmee bei gleichzeitigem Wachstum der Produktivkräfte und des gesellschaftlichen Reichtums. Lebensverbundenheit und Wissenschaftlichkeit bewirken gemeinsam, dass der spontane Protest des Proletariats in die revolutionäre Bewegung des wissenschaftlichen Sozialismus einmündet, sich auf die Stufe des organisierten politischen Klassenkampfes erhebt: „Auf der detaillierten und eingehenden Untersuchung der russischen Geschichte und Gegenwart fußend, muss diese Theorie auf die Fragen Antwort geben, die das Proletariat stellt, und wenn sie den wissenschaftlichen Anforderungen genügt, so wird jeder erwachende Protest im Proletariat unvermeidlich in die Bahn des Sozialdemokratismus leiten.“ [25/68] Die Hüter der alten Ordnung können diese Tendenz nicht beseitigen, weil sie in der Realität selbst, ihren Widersprüchen, verwurzelt ist.

Unter Sozialisten, Mitgliedern der revolutionären Partei, versteht Lenin schon in der Arbeit gegen die Volkstümler nichts anderes als die „ideologischen Führer des Proletariats“ [26/69]. Ihre Aufgabe ist es, das Proletariat in den revolutionären Kampf zu führen, Führer des Proletariats zu sein „in seinem wirklichen Kampf gegen die tatsächlichen, die echten Feinde …“ [27/70]

Um dieser Rolle gerecht zu werden, bedarf es der Vereinigung der theoretischen mit der praktisch-propagandistischen und praktisch-agitatorischen Arbeit. Lenin wendet sich entschieden gegen ihre Trennung, gegen die Vorstellung, sie könnten nacheinander oder unabhängig voneinander gelöst werden. Ebenso wenig lässt sich die eine als primäre, die andere als zweitrangig behandeln. Auf keine kann verzichtet werden. Auch lässt sich nicht ein solcher Punkt angeben, von dem an die theoretische oder die praktisch-ideologische Arbeit als erledigt angesehen werden kann. In der Führung des wirklichen proletarischen Klassenkampfes bilden beide ein unauflösliches ganzes. „Ohne die obenerwähnte theoretische Arbeit kann man kein ideologischer Führer sein, wie man es nicht sein kann, ohne diese Arbeit den Erfordernissen der Sache anzupassen, ohne die Resultate dieser Theorie unter den Arbeitern zu propagieren und ihnen zu helfen, sich zu organisieren.“ [28/71]

In erster Allgemeinheit sind so als Säulen der Führungstätigkeit begründet:

Theoretische Analyse der sozialen Wirklichkeit.

Propagierung der Theorie unter der Arbeiterklasse.

Organisierung der Arbeiterklasse.

Die Lösung dieser grundlegenden Aufgaben dient der Befähigung der Arbeiterklasse zur Avantgarde aller Werktätigen und zur kommunistischen Revolution. Die erste Folge der Schrift „Was sind die ,Volksfreunde’“ fasst die Einheit von ideologischer und politisch-organisatorischer Arbeit der Partei zu diesem fundamentalen revolutionstheoretischen Fazit zusammen:

Wenn die fortgeschrittenen Repräsentanten der Arbeiterklasse sich die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zu eigen gemacht haben, wenn sie sich der historischen Rolle des russischen Arbeiters bewusst geworden sind, wenn diese Ideen weite Verbreitung erlangt, die Arbeiter feste Organisationen gegründet und diese den heute zersplitterten ökonomischen Kampf der Arbeiter in den bewusst geführten Klassenkampf verwandelt haben – dann wird sich der russische Arbeiter erheben, sich an die Spitze aller demokratischen Elemente stellen, den Absolutismus stürzen und das russische Proletariat (Schulter an Schulter mit dem Proletariat aller Länder) auf dem direkten Wege des offenen politischen Kampfes der siegreichen kommunistischen Revolution entgegenführen.“[29/72]«

Anmerkungen

1/44 W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, in Werke, Bd. 1, S. 347.

1/45 Vgl. ebenda, S. 392.

3/46 Ebenda, S. 362.

4/47 Ebenda, S. 524.

5/48 Ebenda, S. 525.

6/49 Vgl. ebenda, S. 524.

7/50 Vgl. Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie, in: K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1958, S. 36ff.

8/51 W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, S. 420.

9/52 Ebenda, S. 403.

10/53 Ebenda, S. 403f.

11/54 Vgl. ebenda, S. 406, „Unmoralisch ist es, die Wahrheit zu beschönigen …“

12/55 Ebenda, S. 425.

13/56 Ebenda, S. 407.

14/57 W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde“ …, S. 187.

15/58 Ebenda, S. 234.

16/59 W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, S. 463.

17/60 Ebenda, S. 383.

18/61 Ebenda, S. 363.

19/62 Vgl. ebenda.

20/63 Vgl. ebenda, S. 359.

21/64 W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde“ …, S. 401.

22/65 Ebenda, S. 300.

23/66 Ebenda.

24/67 Ebenda.

25/68 Ebenda. »Im Leninschen Sprachgebrauch bezeichnet hier der Ausdruck „Sozialdemokratismus“ eine ideologische Haltung und eine praktische Politik, die die besten Traditionen des revolutionären Marxismus fortsetzte und gemäß den neuen Bedingungen weiterentwickelte. Unter Lenins Führung entwickelte sich die SDAPR zur Erbin der revolutionären Traditionen der internationalen Arbeiterbewegung und der deutschen Sozialdemokratie des 19. Jhs., der Partei August Bebels und Wilhelm Liebknechts. –

Der heutige Gebrauch des Wortes „Sozialdemokratismus“ bezeichnet jenen Verrat der rechten SPD-Führung und jenen Sozialreformismus, der eine Variante bürgerlich-kapitalistischer Ideologie und Politik unter imperialistischen Bedingungen beinhaltet.«

26/69 Ebenda, S. 301.

27/70 Ebenda.

28/71 Ebenda, S. 302.

29/72 Ebenda, S. 304.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl. 7.7. Fragen der ideologischen Führungstätigkeit und der materialistisch-dialektischen Ideologiekritik in Lenins Volkstümlerkritik, in: 7. Kapitel: Zur Herausbildung der Leninschen Etappe der materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie.

13.05.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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