Über eine revisionistische Verwässerung der Revolutionstheorie

In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen.“ (Karl Marx)

Von Otto Finger (1973)

»Weltanschaulich und politisch bezeichnet dies durchaus einen Punkt der ausschlaggebenden Differenz zwischen revolutionärem Marxismus einerseits und Opportunismus und Revisionismus andererseits. Dieser Punkt ist aktuell geblieben. Eine Politik reformistischer und opportunistischer Anpassung der Arbeiterschaft an die bürgerliche Gesellschaft und das imperialistische Herrschaftssystem nimmt theoretisch ihren Ausgang auch von der Verwischung dieses Klasseninhalts sowohl der politischen Revolution der Bourgeoisie als auch der durch sie bewirkten bourgeoisen Herrschaftsform. –

Um ein solches Verwischen der prinzipiellen, aus ihrer Klassenfunktion – nämlich Herrschaftsmethode des Kapitals und des Monopolkapitals zu sein – erwachsenden Schranken bürgerlicher Demokratie handelt es sich, wenn Franz Marek in „Philosophie der Weltrevolution“ es groteskerweise sogar zu einer Bedingung für den Sieg der Revolution der Arbeiterklasse macht, dass sie die „Spannweite der Demokratie“ erweitere. –

Ganz sicher wird durch die sozialistische Revolution für die Masse der Werktätigen erstmalig Demokratie zu einer Realität, sie bestimmen ihren sozialistischen Lebensprozess in der umfassendsten und gründlichsten Weise selbst. Die sozialökonomische Garantie hierfür ist das Eigentum des arbeitenden Menschen an den Produktionsmittel, ist deren Vergesellschaftung, gesamtgesellschaftliche Verfügungsgewalt über sie. Die politische Gewähr hierfür ist die Macht der Arbeiterklasse, der sozialistische Staat und die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei.

Dieser ganze aus dem Klasseninhalt der sozialistischen Revolution herauswachsende sozialistisch-demokratische Lebensprozess ist mit der Elle des bürgerlichen Demokratieverständnisses, den Borniertheiten aller demokratischen Phraseologie – die die brutale Monopolisierung auch der politischen Macht der imperialistischen Bourgeoisie nur schlecht verdunkeln – gemessen; sozialistische Revolution und Demokratie sind jedoch mit solchen Maßstäben überhaupt nicht zu messen. Sie liegen in der Tat jenseits dieses Maßes. Genau dies aber fällt aus Mareks Konzept, das deutlich die Konturen des Antisowjetismus hat, heraus.

Die wesentliche revisionistisch-antileninistische Linie Mareks in dieser Frage hebt wie viele ähnliche gegen die allgemeingültige Bedeutung sowjetischer Entwicklung gerichtete Auffassungen zunächst das Moment der „Rückständigkeit“ der Länder heraus, in denen die sozialistische Revolution gesiegt habe – und deren gleichzeitigen Mangel an „demokratischen“ Traditionen. –

Es heißt hierzu bei Marek: „Bei der Propagierung des sozialistischen Weges muss eindeutig unterstrichen werden: Die sozialistische Revolution hat bisher fast ausnahmslos nur in rückständigen Ländern gesiegt, meistens ohne demokratische Traditionen. Die Strukturen, die nach der Revolution errichtet wurden, trugen den Stempel dieser Rückständigkeit und dieser Vergangenheit – und je rückständiger das Land war, um so deutlicher. Die wenigen Ausnahmen industriell fortgeschrittener Länder kopierten weitgehend das erste Vorbild – zum Schaden der Werbekraft der sozialistischen Idee. Die sozialistische Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern, in denen es starke demokratische und parlamentarische Traditionen gibt, wird anders verlaufen und muss anders verlaufen. Sie kann überhaupt nur realisiert werden, wenn große Teile der Bevölkerung davon überzeugt werden, dass die Revolution zu den bestehenden demokratischen Freiheiten und Freizügigkeiten durch die Ausschaltung des Kapitals zusätzliche demokratische Freiheiten erwirken, die Spannweite der Demokratie entscheidend vergrößern wird.“ [1/45]

Zunächst fällt die für bürgerliche, nicht aber für sozialistische Ideologie charakteristische Unbestimmtheit der Diktion auf. Es wird nicht klar, um welchen Typ „demokratische Freiheiten“ und Freizügigkeiten es sich handelt, an welche „Teile der Bevölkerung“ primär gedacht ist, was unter „Freizügigkeiten“ zu verstehen sei, worin präzis die progressiven Momente „parlamentarischer“ Tradition zu sehen sind, was der Terminus „Strukturen“ meint, die nach der Revolution „errichtet“ werden. Marek teilt mit allem neueren und „klassischen“ Revisionismus den Versuch, die ausschlaggebende Frage, nämlich die Klassenfrage, aus all diesen Zusammenhängen und Prozessen auszuklammern. Demokratie, Parlamentarismus, Freiheit, das sind ja gerade solche „Strukturen“ und Prozesse, über deren Bedeutung für die fortschrittliche gesellschaftliche Bewegung, über deren Rolle für die Kämpfe und Siege der Arbeiterbewegung überhaupt nichts ausgemacht werden kann, ohne sie in ihrem konkret-historischen Klassenwesen zu bestimmen. Gewiss schließt solches Bestimmen auch deren Funktionswandel, deren widersprüchlichen Wirkungsprozess etc. ein. In Mareks Konzept werden sie so etwas wie fixen Größen, gar auch höchsten Werten. Kurz, wie alle in Idealismus zurückkippende Marxrevision und Marxfälschung wird in unhistorischer Weise von den realen gesellschaftlichen Inhalten und Funktionen der Begriffe und des durch Begriffe Bezeichneten abstrahiert.

Nach solcher „Reinigung“, solchen falschen Abstrahieren vom Klasseninhalt werden sie dann allerdings sogleich wieder einer sehr konkreten, durchaus klassenmäßig bedingten Funktion zugeordnet: der Diskreditierung der Sowjetunion und der grundlegenden sowjetischen Erfahrungen beim Aufbau des Sozialismus in der sozialistischen Staatengemeinschaft. [Otto Finger, 1973] Dieser Tendenz entspricht es auch, dass die Anwendung der sowjetischen Erfahrungen – ein durchaus schöpferischer Prozess [O. F.: 1973], worin die Bewältigung des dialektischen Verhältnisses zwischen Allgemeingültigkeit grundlegender Züge der sowjetischen Entwicklung und konkrethistorischer Besonderheit einzelner Länder durchaus eingeschlossen ist [Otto Finger, 1973] –, dass dies unter das nicht nbloß vereinfachte, sondern auch verfälschende Schema von Original und Kopie gebracht wird. [- 1973 -] Wenn von „weitgehenden Kopieren“ gesprochen werden soll, dann betrifft dies die Mareksche Argumentation: ihr Original liegt in jenem alten Antikommunismus und Antisowjetismus, der schon unmittelbar nach dem Sieg der Oktoberrevolution auftrat und bald das notwendige Scheitern des „sowjetischen Experiments“ prophezeite, bald von der bloß „russischen-asiatischen“ Relevanz dieser radikalsten Tatsache aller revolutionären Entwicklungen sprach.

Dass dieses ganze, schon von den frühmarxistischen Positionen der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Institutionen aus unhaltbare Unternehmen auf das Lob spätbürgerlicher Sozialismuskritiker stoßen mußte, versteht sich von selbst. Arnold Künzli, philosophischer Publizist und Verfechter einer anthropologisierenden und psychologisierenden Marxfälschung, [2/46] erklärt in „Über Marx hinaus“, Mareks „Philosophie der Weltrevolution“ sei ein „bemerkenswertes“ Buch. [3/47] Was macht ihm Marek so „bemerkenswert“? Die oben angedeutete Tendenz. Künzli trifft durchaus ihren theoretischen Kern, wenn er sie in den folgenden Zusammenhang bringt: die „Entleninisierung des Marxismus und Leninismus“. In dieser abstrusen Terminologie wird dies sichtbar: Mareks Schützenhilfe für die theoretische Hauptrichtung heutiger [- 1973 -] imperialistischer antisozialistischer Ideologie.

Diese Hauptstoßrichtung zielt gegen den Leninismus, die leninistischen theoretischen Grundlagen für den Kampf gegen das imperialistische Herrschaftssystem und die Errichtung und Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Dass sich der Leninismus nicht „entleninisieren“ lässt, scheint evident. Worum es tatsächlich geht, ist die Leugnung des Leninismus als höchster Entwicklungsstufe der Marxschen Lehre, die Zerstreuung des unauflöslichen Zusammenhangs zwischen Marxismus und Leninismus, die Entwertung und Relativierung jener Inhalte der Marxschen Theorie, die ihre epochengültige Weiterentwicklung für den Klassenkampf unserer Tage in Lenins Werk und im Werk seiner Schüler gefunden haben. –

Künzli lobt von daher auch Mareks Auffassung, dass die Marxsche Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen vorgeblich „nicht funktioniert“ habe. Künzli spendet Marek Beifall, wenn er nur noch vom „Marxschen Modell“ dieser Dialektik – also als einem unter vielen – spreche, die Diktatur des Proletariats in Frage stelle, ja, es überhaupt zweifelhaft mache, wieweit heute noch von Klassenkampf die Rede sein könne. [4/48] Kurz, der Schweizer Journalist und philosophischer Antikommunist – der sich selbst einen „Nonkonformisten“ nennt – fördert ohne große Umschweife die politischen Kernfragen und ihre theoretische Basis zutage, die dem ganzen zeitgenössischen Revisionismus die Gunst kapitalistischer Verlagsunternehmer in imperialistischen Ländern, die propagandistische Unterstützung durch die Messenmedien der Monopolbourgeoisie einbringen.

Die bündige, gültige Einschätzung des Marekschen Konzepts und einer Haupttendenz des ganzen modernen Revisionismus gab Kurt Hager bereits auf der 9. Tagung des Zentralkomitees der SED vom Oktober 1968: „Dieses Schema ist geprägt aus der Vorstellungswelt einer – in der Praxis gar nicht realisierbaren – Demokratie ,an sich’ nach dem Muster der bürgerlichen Demokratie. Es beruht auf einem Mythos von absoluter Freiheit des Wortes, der Presse, des künstlerischen Ausdrucks usw. Es ist folgerichtig mit der Erklärung verbunden, dass die führende Rolle der Partei jetzt überbetont werde sowie in institutioneller Hinsicht zu sehr verankert sei und sich als ein Hindernis für die volle Entfaltung der sozialistischen Demokratie erweise. Mit anderen Worten: Die sozialistische Demokratie soll einer von der bürgerlichen Demokratie geprägten Vorstellungswelt angepasst werden, die führende Rolle der Partei im Sozialismus soll eingeschränkt werden. Die sozialistische Staatsmacht soll – wie Genosse Ulbricht eben einwarf – demontiert werden. Wenn heute manche revisionistischen Ideologen die bürgerliche Demokratie auf diese Weise anpreisen, so erheben sie ihre Stimme für eine ‘Demokratie’, die längst geschichtlich bankrott gemacht hat, deren Reste heute durch Notstandsgesetze und andere Methoden des staatsmonopolistischen Kapitalismus immer mehr beseitigt werden.“ [5/49]

Marx’ Formel von der menschlichen Emanzipation als der nicht mehr bürgerlich beschränkten, über den kapitalistischen Klasseninhalt der bürgerlichen Revolution radikal hinausführenden sozialistischen Umwälzung erweist sich so als durchaus aktuell, um heutiger opportunistischer und revisionistischer Verwässerung des Begriffs der sozialistischen Revolution, der realen Demokratie, der konkreten Freiheit Paroli zu bieten.«

[Hervorhebung: R. S.]

Anmerkungen

1/45 F. Marek, Philosophie der Weltrevolution, Wien/Frankfurt/Zürich, S. 118, 119.

2/46 Vgl. hierzu insbesondere seine Schrift aus dem Jahre 1966: „Karl Marx. Eine Psychographie“

3/47 A. Künzli, Über Marx hinaus, Freiburg i. Br. 1969, S. 37.

4/48 Vgl. ebenda, S. 37, 38.

5/49 K. Hager, Die Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften in unserer Zeit, Berlin 1968, S. 40f.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975.

Studie von Otto Finger. Vgl. 3.7. Über eine revisionistische Verwässerung der Revolutionstheorie, in: 3. Kapitel: Philosophischer Materialismus und Herausbildung der wissenschaftlichen Revolutionstheorie der Arbeiterklasse.

01.04.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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